Wenn der Herbst das Land erobert und die Blätter anfangen, sich zu verfärben, dann bekomme ich jedes Jahr auf’s Neue den Blues.

Ich hab den Der-Sommer-War-Schön-Aber-Der-Herbst-Ist-Auch-Schön-Und-Bald-Ist-Schon-Winter-Bluuuues.

In den letzten Tagen stand ich schon mal länger am Fenster und sah den Blättern beim Fallen zu. Mehr als im Winter nutze ich diese Erntezeit, um über das Jahr und mein Betragen zu reflektieren und es gelingt mir, erstaunlich viele Fehler und Verbesserungsmöglichkeiten zu entdecken. Und das mir! Wo ich doch immer alles richtig mache. Deshalb habe ich auch den Warum-Merke-Ich-Nicht-Wenn-Ich-Mich-Wie-Ein-Trampel-Benehme-Bluhuhues.

[yeah, sing it raph, sing it …]
[Das gefällt dir, was?]
[und wie! ich plage mich das ganze jahr mit dir rum und endlich blüht die einsicht.]
[Aber …]
[nix aber. ich schiebe hier immer den raphael-ist-ein-jammernder-klugfurzer-mit-weltrettersyndrom-…]
[Na, also das ist doch …]
[… und-behandelt-seine-freunde-wie-bürozubehöhöhöhööör-blues]
[Das ist doch überhaupt nicht ...]
[und wenn ich mich einmal im jahr mal gut fühle, dann …]
[…]
[was ist das?]
[Eine Schleuder.]
[was macht man damit?]
[Man zieht an dem Gummi hier und schleudert Dinge, zB Bürozubehör, weit weit weg.]
[du drohst mir?]
[Nö. Das macht Dir bestimmt auch Spaß. Komm mal kurz hierher.]
[oooh, nicht nötig. ich wollte gerade eine mundharmonika suchen, ohne die ist der blues nur halb so schön. schreib ruhig in ruhe weiter. mein freund.]

Jetzt ist es nicht so, als verfiele ich in Depressionen, es ist halt dieses leichte Ziehen in der Bauchgegend, da wo sonst die Schmetterlinge schlafen und erscheint gleichzeitig mit der beginnenden Vorfreude auf den Winterschlaf.

Außerdem bemerke ich mit zunehmendem Alter ein gleichmäßig wachsendes Verlangen, meine verbliebene Restzeit intensiver zu nutzen. Als junger Mensch hat man das Gefühl, dass ja noch so wahnsinnig viel Zeit bleibt, um seine noch in der Planung begriffenen Vorhaben umzusetzen, aber irgendwann werden die Zeitfenster kleiner und manches gibt man sogar auf.

Obwohl ich das sogar als Erleichterung empfinde, denn was hatte ich nicht alles vor, das ich dann doch nicht erledigte?
Das ist auch die Krux der Jugend: dass man zu viele Möglichkeiten hat, heutzutage.
Früher wusste man, dass man Bauer oder Handwerker oder Arbeiter wird, wie der Vater und sein Vater und dem seiner. Man konnte sich auf ein Ziel konzentrieren. Wer als 18-jähriger Gymnasiast vor dem Abi gefragt wurde, was er werden möchte und dann noch die mentale Folter des BIZ über sich ergehen lassen musste, weiß, dass es heute schwer geworden ist.

Und obendrein sind die Kinder der sexuellen Revolution auch noch abgelenkt durch die unergiebige Suche nach paarungswilligen/-würdigen Partnern.
Als anno-dazumal die Eltern noch vorgaben, wen man heiraten möchte, war auch diese Last von den Schultern genommen. Es war im Grunde genau so eine Glückssache wie heute, nur dass sich die Eheleute mehr Mühe geben mussten mit dem Eheleben, denn man konnte sich ja nicht trennen.

Der Blues ist ein neuzeitliches Phänomen. Er ist ein Ausdruck verpasster Chancen und falscher Entscheidungen. Wohl dem, der sich immer richtig entscheidet und sei es nur aus Versehen. Denn heutzutage ist das Leben nicht nur Leid und das Paradies nach dem Tod fraglich, da kümmert man sich automatisch viel mehr um die zur Verfügung stehende Zeit.

Freiheit ist ein zweischneidiges Schwert. Wer sie hat, sollte sie nutzen und das möglichst klug. Und gerade das fällt mir so schwer.

[manchmal braucht man auch glück. jeder begangene weg kann damit stehen oder fallen.]
[Über zugeflogenes Glück kann ich nicht klagen.]
[dann sing doch, ich habe eine Mundharmonika aus Gras gebaut, siehst du?
Ta-di-da-di-dum, du-dum, du-dum …
]

Wisst ihr was? Das schönste am Leben ist doch, wenn man alles hat und nie aufhört, noch mehr haben zu wollen. Die Trauer über den Verlust oder das Nicht-Vorhandensein von Dingen, die man eh nicht wirklich braucht, das ist der wahre schöne Schmerz. Und wer den spürt, der weiß, dass das Leben bunt ist und granatenstark.